Nr. 57

Unter der Lupe: „Psychosomatisch“ oder „somatopsychisch“? Empfehlungen für jemanden mit einem psychosomatisch bedingten Problem

Artikel von

Dr. Manfred Prior 

Lieber Manfred, 

ein Verwandter hat nach einer Coronaerkrankung im Herbst letzten Jahres seine Stimme „verloren“. Er hat seither viele Untersuchungen und Behandlungen gehabt, zuletzt eine 3-wöchige stationäre Reha in einer Stimmklinik. Er hat gesagt bekommen, es sei vermeintlich alles „organisch“ okay und es läge „am Kopf“, er solle eine verhaltenstherapeutische oder tiefenpsychologische Psychotherapie machen. Wen könntest du mir empfehlen?

Herzliche Grüße

Gustav

Lieber Gustav,

körperliche Erkrankungen können zu massiven psychischen Belastungen führen. Zu Beginn meiner Berufstätigkeit hatte ich wegen eines gebrochenen Fingers die rechte Hand sechs Wochen lang im Gips und war in dieser Zeit extrem gereizt und belastet. Ich konnte nur unbeholfen und langsam mit der linken Hand Notizen machen und schreiben. Ich konnte und wollte mich nicht darauf einstellen, dass ich nur eine Hand zur Verfügung hatte und mir als Rechtshänder mit der linken Hand nichts mehr leicht von der Hand ging. Alles dauerte gefühlt „ewig“. Zu jener Zeit war ich weder für mich noch für meine Mitmenschen gut genießbar.

Wer, wie Dein Verwandter nicht mehr sprechen kann, ist in viel höherem Maß belastet. Jeglicher menschlicher Kontakt ist erheblich erschwert bis unmöglich. Ohne Stimme kann man die meisten Berufe nicht mehr ausüben. Deshalb haben Dorothea Thomassen und Gunther Schmidt das Konzept der somatopsychischen Belastungen eingeführt und beschreiben damit die seelischen und zwischenmenschlichen Belastungen, zu denen körperliche Krankheiten führen können.

Wenn ÄrztInnen keine Ursachen körperlicher Beschwerden finden und nicht helfen können, stellen sie häufig die (Verdachts-)Diagnose "psychosomatisch" oder sagen es läge wohl an "zu viel Stress" oder - wie in deinem Fall - "es läge am Kopf". Im Gegensatz zu den bei deinem Verwandten sicher vorliegenden erheblichen somatopsychischen Belastungen sind diese (verdachts-) diagnostizierten psychosomatischen Belastungen oder Ursachen reine Spekulation. Die ÄrztInnen sagen oder diagnostizieren das in der Regel in dem Glauben, damit den PatientInnen etwas Gutes zu tun. Sie hoffen, dass die vermuteten psychischen Ursachen der somatischen Beschwerden gefunden und damit die Krankheit geheilt werden könne.

PatientInnen verarbeiten diese (Verdachts-) Diagnose aber sehr oft so, dass er nach dem sucht, was an ihm "nicht richtig im Kopf" oder an seiner Psyche und seinem Seelenleben nicht richtig ist. Diese Suche schafft in Form einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung das, wonach man sucht. Wer nach zu viel Stress oder psychischen Probleme sucht, der findet. Fast jeder Mensch hat heute zu viel Stress, meint über manche Dinge sich zu viele Gedanken, zu viel "einen Kopf“ zu machen oder ist von etwas psychisch belastet. Dieser Stress oder diese psychischen Probleme sind meist kein größeres Problem, sondern Teil des Lebens. In Verbindung mit der (Verdachts-) Diagnose "psychosomatisch" hat man nicht nur eine körperliche Krankheit, sondern auch noch vermeintlich krankmachende psychische Probleme oder Stressprobleme, die man angehen und reduzieren muss, wenn man körperlich gesund werden will. Das belastet einen noch mehr und kann einem - wie bei deinem Verwandten - noch mehr die Sprache verschlagen.

Aber niemand weiß, ob und in welchem Ausmaß dieses zu viel an Stress, diese psychischen Probleme ursächlich an den somatischen Erkrankungen (mit-)beteiligt sind. Auch weiß niemand, ob und in welchem Ausmaß mit der Reduktion des Stresses und der psychischen Probleme die körperliche Erkrankung sich bessert. Ganz besonders fatal kann die Verdachtsdiagnose "psychosomatisch" für Menschen mit lebensbedrohlichen Erkrankungen wie Krebs sein. Bis zur Entdeckung des krebsfördernden Bakteriums Heliobakter pylorii wurde Magenkrebs oft als durch zu viel Stress bedingt "erklärt". Heutzutage stellt die "S3-Leitlinie Magenkarzinom" eindeutig fest: "Helicobacter pylori ist der wesentliche Risikofaktor für das Magenkarzinom". Bei Frühformen von Magenkrebs sollte als Therapie die "Heliobakter-Eradikation" mit Antibiotika durchgeführt werden.

Es ist m. E. ein gravierender Fehler, wenn man die gutgemeinte (Verdachts-) "Diagnose" "psychosomatisch bedingt" ohne Erläuterungen der obigen Art stehen lässt und nur eine Empfehlung ausspricht
¹⁾ .

Wenn PatientInnen ihre körperlichen Symptome schildern, bemerke ich in der Regel, welche enormen Stärken sie aktivieren konnten, so dass es ihnen möglich war, trotz der enormen, durch die körperlichen Einschränkungen bedingten psychischen Belastungen (weiter) zu leben, ihre Partnerschaft, ihren Job und so viel ihrer guten Stimmung zu erhalten.

Foto von Danish PT

Ich würde deinem Verwandten mit den o. g. Begründungen erklären, dass er zunächst einmal keine PsychotherapeutIn (auf-)suchen solle, weil er ja wahrscheinlich nicht psychisch krank ist. Er beweise vielmehr besondere psychische Stärken, weil er trotz des Stimmverlustes noch ... (beschreib hier das, was du von ihm weißt, was er sich alles erhalten konnte). Es könne aber sein, dass er durch den Verlust seiner Stimme massiv (somato-)psychisch belastet sei und diese Belastung könne krankheitswertige Ausmaße annehmen. Im Umgang mit diesen durch den Verlust seiner Stimme bedingten psychischen Belastungen könne eine Psychotherapeutin durchaus eine gute Unterstützung sein, wenn sie diese Einschätzung der vornehmlich somatopsychischen Belastung teilt. Manche TherapeutInnen bieten auch Verfahren an, mit denen man über "Mind-Body-Healing" versuchen kann, das somatische Geschehen durch Aktivierung unbewusster Ressourcen oder eine Förderung natürlicher Heilungsprozesse positiv zu beeinflussen. Darüber hinaus würde ich empfehlen, weiter im Bereich Stimmspezialisten, Logopädie, Stimm- und Sprachstörungstherapie zu suchen.

Außerdem würde ich deinem Verwandten zumuten und zutrauen, dass er der folgenden bedrückenden Möglichkeit ins Auge schaut: Es könnte leider auch sein, dass er mit dem Verlust seiner Stimme nach einer Coronaerkrankung riesiges Pech gehabt hat, weil er vielleicht eine körperliche Erkrankung mit sehr weitreichenden und folgenreichen Einschränkungen hat, für die die Medizin bisher weder eine Ursache noch eine Therapie kennt.

Herzliche Grüße aus Kriftel
Manfred

1)

Ausführlicher wird die Problematik der Überweisungsdiagnose "psychosomatisch" diskutiert in M. Prior: Beratung und Therapie optimal vorbereiten 9. Auflage, 2022, S. 108 - 112