Nr. 58
Fallgeschichte: Der winzige Michel
Artikel von
Kerstin Graf
Klinische Hypnose kann sich auf das psychophysiologische Erregungsniveau und auf weitere, damit zusammenhängende somatische Prozesse günstig auswirken – und zwar auch über die eigenen Körpergrenzen hinaus. So geschehen ist dies im Fall des winzigen Michel, dessen Geschichte die behandelnde Therapeutin der Patientin und Mutter von Michel in den Mund legt.
Michel
Während ich, typisch für mich – nur äußerlich ruhig – wieder einmal bei ihr sitze, schlackert sie manchmal ein wenig herum und sagt ab und an Sachen, mit denen ich so überhaupt gar nicht gerechnet hätte. Ach so: „SIE“, das ist meine Psychotherapeutin. Und manchmal schlackert sie auch nicht, sondern ist ganz ruhig. Aber das sehe ich dann nicht, weil ich meine Augen geschlossen habe. Die Augen geschlossen, schwer oder leicht, so wie die Hände, links oder rechts, je nach „ja“ oder „nein“ oder so, und manchmal auch der ganze Rest des Körpers. Denn während meine äußeren Augen geschlossen sind, kann ich meine Bilder sehen. Es ist wie in einem eigenen Raum, meinem Raum, mit Stimme und Bildern. Meistens irgendwie angenehm.
Wer ich bin? Ich bin die schlechteste Schwangere der Welt! Aber eines nach dem anderen.
Ihr könnt mich Harry nennen. Eigentlich ist mein Name Hermine, aber als sich damals in der Schulzeit bei den anderen Mädchen diese wunderbaren Knospen der ersten Fraulichkeit zeigten, wuchs mir ein männliches Fell: Ein wenig über der Lippe, etwas mehr unten am Bauch und auch am Rücken, der breiter wurde, so wie der Rest von mir. Dass dies – wie ich später erfuhr – am PCO Syndrom lag, war den Jungs und Mädchen aus meiner Klasse egal, als sie mich erst Harry und später dann Herrmann tauften. Wie ich damit umging? Ihr meint, wo meine Eltern mich doch auch nur als „abnorm“ und „zu nichts nutze – nicht mal zum Kinder bekommen“ bezeichneten? Zynisch gesprochen, könnte man sagen, ich habe mir ein dickes Fell wachsen lassen. Haha. Faktisch bin ich einfach unheimlich nett und freundlich geworden. Und klug. Ein richtiger Schatz, bei dem jeder immer ein offenes Ohr findet. Und als Leiterin einer arbeitstherapeutischen Einrichtung für besondere Menschen bin ich die Beste, die man sich vorstellen kann – so steht es zumindest immer in den Weihnachtskarten.
Mit der Therapie begann ich, als ich mich von meinem Ehemann trennte. Exehemann! Das unablässige Gerede um die Künstlichkeit einer Schwangerschaft in meinem Falle und das ganze „umsonst für nichts“ hatte unsere Ehe einfach zerstückelt und zerstört. Und natürlich die Tatsache, dass ich an dem ganzen Dilemma die Schuld trug. Nun sitze ich hier – schwanger. Schlechteste Schwangere der Welt, aber das erwähnte ich bereits. Das Beschäftigungsverbot, das elefantenartige Lipödem, das in der Schwangerschaft noch mal zu neuen Formen aufblühte, und überhaupt, viel zu rund für die 22igste Woche. Ich wünschte, ich wäre nicht mehr schwanger. Ich wünschte, ich hätte schon mein Baby im Arm. Vorbei am Schwangerschaftschaos. Doch wie sehr würde ich diesen Wunsch schon wenige Tage später bereuen.
Heute kann ich nicht mehr sagen, ob ich das dritte oder vierte Mal nach einem dieser Hypnodings schwanger wurde. Nach der Reise in mein früheres Kinderzimmer, in dem ich saß und zuhörte, wie unerlässlich und furchtbar meine Eltern stritten. Wie ängstlich und traurig ich dort hockte und wie ich mit meinem ganzen, großen Erwachsenen-Ich dort hinreiste und dem kleinen, traurigen Mädchen alles geben konnte, was sie brauchte in ihrer Not. Und als ich dann plötzlich wusste, dass ich niemals die Fehler meiner Eltern wiederholen würde. Ich wäre eine gute Mutti. Oder wurde ich schwanger, als ich mich dort wieder fand, wo es sich zum letzten Mal richtig kribbelig und leicht anfühlte, in mir und meinem blöden Unterleib. Dort auf diesem gelb-roten Feld aus Raps und Mohn. Als der warme Sommerwind und die aufsteigende feuchte Luft aus der noch regennassen Erde unter meine Mädchenröcke fuhr. Aber eigentlich glaube ich, es passierte, nachdem ich höher und höher gestiegen war und über meinem Garten der Lust ein wenig herumflog. Mich betrachten konnte, von da oben, zwischen all den riesigen bunten Früchten und farbigen Gräsern. Splitterfasernackt! Und soll ich Dir was sagen: Ich sah schön aus. Richtig schön.
Als ich eines Tages dann voller Vorfreude in der Praxis auftauchte, um meiner Therapeutin die Neuigkeiten vom „Volltreffer“ zu berichten, grinste sie, schlackerte ein wenig mehr als sonst und sagte nur: „Großartige kleine Schwimmer hat ihr neuer Partner da“.
Heute lacht keiner von uns. Heute habe ich Angst. Ich bekam Blutungen. Meine Gynäkologin beruhigt mich. „Blutungen können immer mal auftreten. Herztöne und Ultraschall sind unauffällig.“ Ich glaube ihr aber irgendwie nicht. Vielleicht ist dies ja aber nur eine meiner ständig lauernden Sorgen, auch ein besonderes Kind zur Welt zu bringen – von der Besonderheit, wie sie die Menschen an meinem Arbeitsplatz mit sich herumtragen. Und jetzt, in der Therapiestunde der Vorschlag, mein Unbewusstes zu Rate zu ziehen?
Nachdem ich in Trance gehe, bin ich ganz klein geschrumpft. So klein, dass ich mit einem Boot in meinen Körper reisen kann. Doch heute ist die Reise in mein Trance-Zimmer nicht schön. Nicht angenehm. Sie ist furchteinflößend. In einem Fluss aus Blut fahre ich in dieser lichtlosen Höhle, in der die Tropfsteine von der Decke hängen. Jederzeit kann einer fallen und Zerstörung anrichten. Und dann beginnt mein Herz zu rasen und ich zittere, als ich sehe, dass ein Beinchen meines winzigen Sohnes aus einem Loch in der Decke hängt. Er droht zu fallen. Als ich schreie, fragt meine Therapeutin, ob sie mit hereindarf. Sie steht neben mir und sagt mit fester Stimme, „Wir finden eine Lösung“. Und sie erinnert mich, dass ich immer eine Lösung finde. Das stimmt! Wir besprechen das Erlebte nach, als ich wieder ganz wach bin. Und dann laufe ich los. Ich laufe nicht nach Hause. Ich laufe sofort in die Klinik. Und zum ersten Mal setzte ich mich für mich ein. Für mich und mein Kind. Ich übertreibe maßlos, als ich mit dem Arzt dort spreche. Übertreibe den Bericht über den Umfang der Blutung, über die Schmerzen, über die Dauer derselben. Ich werde stationär aufgenommen. Dann plötzlich als Notfall in die Uniklinik der nächsten Großstadt verlegt. Infusionen. Merkwürdig liegen. Medikamente. Ernste Gesichter. Vorbereitung – blitzartig. GLASKASTEN.
Ich denke an meinen Lieblingskinderfilm. Michel in der Suppenschüssel. Du bist so klein – Du würdest ganz und gar in eine Suppenschüssel passen. Mein kleiner Michel. 22 Wochen +4T.
Intensivstation. Suppenschüssel. Drähte und Schläuche und die Zeit bleibt einfach stehen. Vier Wochen bleibe ich noch bei Michel in der Klinik. Dann werde ich entlassen. Die wenigen täglichen Stunden der Trennung sind kaum auszuhalten und dennoch brauche ich sie, um zu erholen. In der Therapiestunde denke ich mich in Trance, und dort an all die große Liebe und die große Kraft, die ich in verschiedenen Situationen schon empfand. Dieses Gefühl wird zu einem leuchtend weißgelben, honigflüssigen, warmen Strom, dessen beständiges Rauschen an die Weite des Meeres erinnert. Dieser Fluss fließt unsere Landstraße entlang, aus dem Dorf hinaus, über die Schnellstraße, rauf nach Berlin, hin zur Klinik, durch die Tür, die Treppe hinauf durch den breiten Eingang der Station und hin zu Michel. So komme ich durch die Nächte. Doch dann beginnt das mit dem Reanimieren. Michels winziges Herz bleibt immer wieder stehen. Meine Gegenwart tut ihm gut. Ich werde wieder stationär aufgenommen. Und dann verstreichen die Wochen in einem einzigen Piepen und Summen. Tag und Nacht kennen keine Wechsel mehr, Hoffnung und Verzweiflung keine Nahrung.
Als ich einfach nicht mehr kann, habe ich auch nichts dagegen einzuwenden, dieses Hypnodings einmal per Video zu versuchen. Schließlich weiß ich nun, wo der Hase langläuft. Entweder die Treppe rauf oder runter, wo meist ein Abenteuer wartet. Liegend in der Hand meines Unbewussten. Neben mir der Michel – angeschlossen an Monitore – auch in der letzten Nacht eine Reanimation. Und in Trance höre ich eine Geschichte davon, wie der Körper alles kann, um ein kleines Kind zu bauen – diesen winzigen Zellen alles geben kann. Nahrung, Wärme, Kraft und Energie. Und die Mutter das einfach kann. Dem Fötus alles geben, was er braucht, um zu wachsen. Ohne nachzudenken. Einfach fließen lassend. Und dass eine solch starke Verbindung nach der Geburt nicht einfach weg ist. Sondern da. Ich bin jetzt ganz ruhig, als ich wieder in dem Intensivzimmer ankomme. Es dauert ein wenig, bis ich bemerke, dass eine Schwester mich angrinst. In breitem Berliner Akzent sagt sie: „Scheint dem Michel jut zu tun, dit Entspannungsdings, wat se da tun. Hat richtig jute Werte jekricht, währenddessen.“
Noch einige Male passiert das während unseres weiteren Aufenthaltes so. Einmal, als in Trance eine riesige Kuppel um Michel und mich entsteht, mit Pflanzen und wieder diesem goldenen Licht aus dem Fluss. Die Kuppel sperrt alles aus. Das ganze Tür auf Tür zu, das ganze Piep, die ganzen Widersprüche der Ärzte, die ganzen Wenns und Danns und die ganzen Leute, die ich alle nicht mehr sehen kann. Ein anderes Mal reisen wir in die Zukunft, in der alles gut geworden sein wird, und dann Schritt für Schritt zurück, bis zum heutigen Tag. Und ein weiteres Mal soll hier keine Erwähnung finden, da es Michels Vati betrifft. Immer wenn ich in diesen Bildern bin, dann geht es ihm besser. Dem Michel, der jetzt nicht mehr in einer Suppenschüssel leben muss.
Heute ist es so weit. Ich nehme mein kleines, menschliches Paket aus dem Bettchen in seinem Kinderzimmer. Es geht ihm gut. Nur noch eine kleine Operation steht ihm bevor. Nun möchte ich ihn meiner Therapeutin vorstellen. Sie nimmt ihn gerne auf den Arm und seine kleinen Ärmchen schlackern ihr in diesem Moment ein wenig entgegen.
Eure Hermine

Foto von Lisa from Pexels