Nr. 58
Bewahrende Volksetymologie - herrlich kommt von Herr und dämlich von Dame – oder doch lieber Sprachspiel?
Artikel von

Betty Niederauer
Das Lesen der Texte zum Schwerpunktthema hat mir große Lust gemacht, auch einen Beitrag beizusteuern und zwar aus linguistischer Sicht. Da sich das MEGaPhon als Vereinszeitung der M.E.G. vornehmlich an Psycholog:innen, Ärzt:innen, Pädagog:innen und Coaches richtet, erlaube ich mir zunächst eine kleine Einführung:
Die Sprachwissenschaft unterscheidet zwischen diachronischer und synchronischer Sprachbetrachtung des Wortschatzes. Die etymologische Erfassung des Lexikons, also die Herkunft der Worte einer Sprache, ist klarerweise diachronisch; sie untersucht die Veränderung der Sprache über einen Zeitraum hinweg. Synchronisch hingegen betrachtet den Wortschatz zu einem bestimmten Zeitpunkt (wie ein Schnappschuss) ohne die historische Entwicklung zu berücksichtigen und das Wissen um die tatsächliche Herkunft mitzudenken. Beide Ansätze haben ihre Berechtigung - diachronisch zeigt die Herkunft und den Wandel des Sprachschatzes, während synchronisch den von einer Sprecher:innengruppe erlebten Zusammenhang innerhalb des Lexikons in einer bestimmten Zeitperiode erfasst. In der Morphologie als Unterkategorie der Linguistik werden u. a. die Wortfamilien untersucht und Wortwurzeln eruiert. Etymologisch gehörten zur Wortfamilie herr (Wortstamm) Wörter wie herrlich, Herrlichkeit, herrschen, herrisch, Bauherr usw. Ich behaupte, das ist auch für heutige Sprecher:innen noch zu erkennen und ist gleichermaßen motiviert, also verwandtschaftlich nachvollziehbar. „Heutige Sprecher:in“ sei definiert als derzeit lebende Person ohne Wissen um die tatsächliche Herkunft der Wörter mit Muttersprache Deutsch, eine synchronische Sprachbetrachter:in sozusagen. Für alle im Artikel besprochenen etymologischen Zusammenhänge verweise ich auf das Etymolisches Wörterbuch der deutschen Sprache von Friedrich Kluge, überarbeitet von Elmar Seebold in der 22. Auflage.
Wie verhält es sich nun bei dämlich zum Wortstamm dam/däm(e)? Dazu möchte ich zuerst einmal einen Umweg nehmen über das Adjektiv unbotmäßig, das zwar etwas archaisch ist, aber von der Mehrheit der nativen Sprecher:innen noch heute verstanden wird als „sich nicht so verhalten, wie es gefordert wird; rebellisch; aufrührerisch“. Etymologisch korrekt kommt unbotmäßig von (ge)bieten aus der semantischen Ecke von Gebot („Befehl“). Ich behaupte, die Mehrheit der heute lebenden Sprecher:innen können das nicht mehr fehlerfrei herleiten. In der synchronischen Sprachbetrachtung für diesen, heutigen Zeitpunkt könnte man das Adjektiv demnach nicht mehr sicher bei der Wortfamilie biet(en) einordnen. Eine linguistische Anekdote beschreibt aber eine – wie ich finde – sehr sinnige neue, nachvollziehbare Wortverwandtschaft. Die Redewendung wir sitzen alle im selben Boot wurde von einem mutigen Studierenden ohne Kenntnis der Wortherkunft als Herleitung herangezogen: Wer im selben Boot sitzt, befindet sich in der gleichen Situation wie die anderen und ist gleichermaßen betroffen. Man muss zusammenhalten, um durchzukommen und eine Lösung zu finden. Wer sich hingegen sperrt und unsolidarisch benimmt, verhält sich unbotmäßig. Tara! Diachronisch völlig falsch, aber synchronisch gesehen motiviert, fast genial erläutert. Das zweite o stört dabei nicht wirklich.

Foto von Arthur A
So etwas nennt man Volksetymologie, also eine volkstümliche, etymologisch falsche Zurückführung auf ein nicht verwandtes, lautlich gleiches oder ähnliches Wort. Und Sie ahnen es bereits: So ist es auch bei dämlich, was nicht auf Dame zurückgeht, sondern auf bayrisch damisch oder älter dämisch, semantisch „taumelig, nicht ganz bei Sinnen sein“ im Gegensatz von Dame, das auf dem lateinischen Wort domina beruht.
Anders als bei unbotmäßig finde ich die volkstümliche Erklärung nur leider nicht genial, dafür umso mehr entlarvend. Dass Sprache die Gesellschaft abbildet, ist allseits bekannt und kann als banales Wissen abgetan werden, macht es aber deshalb nicht weniger wahr. Das gilt auch und sogar vermehrt für volksetymologische Verzerrungen. Sprache bildet also ab, meist etwas zeitversetzt, hinkt sozusagen hinterher, verändert sich aber auch laufend. Wer selbst Boomer ist und vom Soziolekt der Gen Z maximal 50 pct. checkt, weiß, dass auch das stimmt. Der Satz allein belegt sprachliche Veränderung sowie den Einfluss von Anglizismen.
Auch die Grammatik einer Sprache ist von Veränderung betroffen, was Sprachbewahrer:innen ein Graus ist; die schüttelt es. Für Solche ist schon die wachsende Übermacht des Dativs gegenüber dem Genitiv zu viel. Und ich gebe zu, dass sich für mein Ohr – Relativpronomen betreffend – ein Satz wie „die Frau, was im Garten steht …“ schlimm anhört, aber ich bin auch für so eine Konstruktion gezwungenermaßen bereit, denn manches andere ändert sich einfach nicht schnell genug. Man/frau stelle sich folgende Situation vor: Ich habe drei Freundinnen zu mir eingeladen auf einen Ratsch (Plausch, für Nicht-Süddeutsche). Bevor sie gehen, finde ich einen Lippenstift im Badezimmer, der nicht mir gehört. Ich muss grammatikalisch korrekt fragen: „Wer hat seinen Lippenstift im Bad vergessen?“ oder „Wer hat den Lippenstift im Bad vergessen?“ Grammatikalisch falsch wäre: Wer hat ihren Lippenstift im Bad vergessen? OBWOHL NUR FRAUEN DA SIND!
Und was sollen da erst die sogenannten Diversen sagen, die LGBTQ+? Im Deutschen gibt es kaum Ansätze für einen adäquaten sprachlichen Umgang mit nicht-binären Personen. Im Englischen klappt das mit „they/them“, also dem Plural der Pronomen, ganz gut, ist aber wegen der Bezeichnungs-Gleichheit im Deutschen (Feminin Singular mit Maskulin, Feminin und Neutral Plural) nicht übertragbar; Ansätze hierzu sind nur Insidern (Anglizismus für Eingeweihte) bekannt. Wenn one bedenkt, was sich für eine hässliche Debatte bereits über das Gendern entzündet hat, …; wie bei so Vielem zeigt die Gesellschaft sich heute gespalten.

Foto von Katie Rainbow
Sprachbewahrer:innen, inklusive die Linguist:innen unter ihnen, sprechen sich für die Verwendung des generischen Maskulinums aus, also für die Verwendung der männlichen Form eines Substantivs oder Pronomens, um eine Gruppe von Personen unabhängig vom Geschlecht zu bezeichnen. Es läse sich flüssiger und bewahre die Schönheit der deutschen Sprache – man/frau/nicht-bin beachte den Konjunktiv. Dass es insbesondere für benachteiligte und/oder marginalisierte Gruppen wichtig ist, ausdrücklich mitgenannt zu sein, wird dabei völlig übergangen. Außerdem dürfe nicht eingegriffen werden, Sprachveränderung dürfe nur natürlich geschehen. Hier möchte ich an Theodor Siebs, den deutschen Germanisten, erinnern, der 1898 das erste Aussprachewörterbuch für die deutsche Sprache erarbeitete, die Deutsche Bühnensprache oder einfach den Siebs, und damit wie nebenbei die Standardaussprache normierte, wie sie noch heute weitestgehend Bestand hat.
Der Philosoph Ludwig Wittgenstein betonte, dass Sprache nicht nur ein Werkzeug zur Kommunikation ist, sondern auch eine Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen und strukturieren. Sprache formt und prägt also unser Denken. Die verwandte Sapir-Whorf-Hypothese, auch bekannt als linguistische Relativität, besagt, dass die Struktur und das Vokabular einer Sprache das Denken und die Wahrnehmung der Welt durch ihre Sprecher:innen beeinflussen. Die Kognitionswissenschaftlerin Lera Boroditsky hat Aspekte dieser Hypothese maßgeblich bestätigen können und zwar anhand einer der Sprachen der Aborigines in Australien, die anstelle von links und rechts (dafür haben sie keine Entsprechungen) die Himmelsrichtungen verwenden. Diese Sprecher:innen haben nachgewiesenermaßen ein ausgeprägteres räumliches Orientierungsvermögen und können sich auch in unbekannten Umgebungen gut zurechtfinden. Signifikant besser als wir mit links und rechts!
Wittgenstein führte den Begriff der „Sprachspiele“ ein, um zu zeigen, dass Sprache in verschiedenen Kontexten und Situationen unterschiedlich funktioniert. Diesen Begriff möchte ich gerne übernehmen und etwas umdeuten, wenn ich postuliere: Spielt mit der Sprache! Probiert aus! Verschafft euch Gehör (oder Gelese)! Habt Spaß an der Sprache und ihren kreativen Möglichkeiten, auch wenn es meist nicht zu etwas Allgemeingültigen führt! Und da darf auch der Witz nicht zu kurz kommen. Wenn jemensch eine „Konifere“ auf seinem oder ihrem Gebiet ist oder einen „ökonomischen Gottesdienst“ abhält, ist das zwar falsch ausgedrückt, aber ansonsten einfach nur genial daneben.

Foto von ivan quijano