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Vereinszeitung der Milton Erickson Gesellschaft

 Nr. 58

Worte der Macht - Macht des Schweigens - Worte der Aufklärung und der Freundlichkeit

Artikel von

Maria Schnell

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Das Verhältnis von Sprache und Erleben ist ein dialogisches. Die Worte, mit denen wir eine Erfahrung beschreiben, wirken auf die Erfahrung zurück, erweitern, differenzieren, verändern den Erfahrungsraum. Für Menschen, die zum ersten Mal verliebt sind, ist vielleicht zunächst ein seltsamer Zustand spürbar. Angesichts der geliebten Person bekommen sie weiche Knie, Herzrasen, eine Art Blackout. Die Bezeichnung dieses „Syndroms“ als „verliebt“ öffnet dann den Bedeutungsrahmen, wirkt wie eine Übersetzung in ein anderes Medium. Der Begriff erlaubt eine Dissoziation, vor allem wenn es sich um ein Substantiv handelt. Mit dem Wort Verliebtsein oder z.B. auch Panik erscheint das Befinden wie etwas klar Umrissenes, ein Ding. Zugleich verbindet es mit Anderen, mit dem Menschlichen, denn wenn es ein Wort für diesen Zustand gibt, haben ihn auch schon andere erlebt und ich bin nicht allein damit. Worte und Sätze sind Suggestionen und Autosuggestionen. Sie vermitteln ein Verständnis, sie richten unsere Aufmerksamkeit aus, und sie verbinden mit einer Sprachtradition, schaffen Zugehörigkeit. Da Erfahrungen in der Welt - die Wirklichkeit selbst - komplexer sind als die Sprache, mit der wir sie beschreiben, bedeutet eine sprachliche Übersetzung des Erlebens immer eine Reduktion des Möglichen. Darüber hinaus ist mit dieser Versprachlichung, der Wortwahl, den Formulierungen, den Auslassungen, eine Wertung verbunden. Daher können Worte Geschenke sein, aber sie können auch verletzten, verschleiern, schlimmstenfalls die Wirklichkeit verfälschen und zu Ungerechtigkeit und Gewalt führen. 

Worte der Macht

Mit dem Begriff Holocaust wird international die systematische Ermordung jüdischer Mitbürger*innen durch die Nationalsozialisten beschrieben. Dieses Fremdwort, griechisch holókaustos, bedeutet „völlig verbrannt“ und bezieht sich auf einen kultisch-religiösen Opferritus mit Tieren im Altertum. Die Nutzung eines Begriffs aus einem sakralen Kontext, in dem Opferdarbietungen eine spirituelle Bedeutung haben, verschleiert auf groteske Weise die erfolgte, planvolle methodische Ausgrenzung, Vertreibung und Ermordung von sechs Millionen Juden und Jüdinnen. Der in Israel verwendete Begriff Schoah, übersetzt „Untergang, Katastrophe“, eignet sich eher für die Bezeichnung der millionenfachen Tragödie des jüdischen Volkes.

Ein Fremdwort ermöglicht Dissoziation, ein unpassendes, falsches Wort nährt Lügen, Manipulation, und dies kann bei denen, die das Wort hören und nutzen, ebenfalls zu Unaufrichtigkeit und Lebenslügen führen. Worte wie „Vergasung“, „Konzentrationslager“, „Massenerschießung“, „Deportation“ lösen dagegen starke Emotionen aus. Eine Auseinandersetzung mit diesen Affekten und den damit einhergehenden intra- und interpersonellen Konflikten könnte zu einer wahrhaftigeren Sprache und damit einer Verarbeitung dieser deutschen Geschichte führen (Lebert & Lewitan, 2025). Denn sowohl in der psychotherapeutischen Teilearbeit als auch in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen fördern Wahrnehmung und respektvolle Behandlung von schmerzlichen, Angst oder Ablehnung auslösenden Realitäten die Entwicklung eines wirklichkeitsnahen Selbstverständnisses. Der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani postuliert in einem Text über seinen Besuch in Auschwitz, dass Deutschland die Heimat der auf der Welt berühmten Klassiker ist wie Goethe, Heine, Beethoven, zugleich mit Auschwitz aber auch Sinnbegriff des Bösen wurde. Aus seiner Sicht liegt gerade in dieser Gebrochenheit der bundesdeutschen Identität ein Potenzial von Vitalität und Stärke. Denn, so zitiert er Rabbi Nachman von Berditschew: „Es gibt nichts Ganzeres als ein gebrochenes Herz“ ( Kermani 2020, S.242).

Foto von Designecologist

Macht des Schweigens

Die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri spricht in ihrer Rede zur Eröffnung des Literaturfestivals in Berlin 2023 über die Auswirkungen des Verschweigens (Melandri, 2023).

Das Gefühlsleben sei wesentlich bestimmt von dem, was ungesagt ist. Es sei sogar denkbar, menschliche Gesellschaften anhand ihres Umgangs mit dem Schweigen in der jeweiligen Generation zu beschreiben. Werden fehlende Worte hinzugefügt oder wird das Schweigen an die nächste Generation weitergegeben? Als Beispiel nennt Melandri das Sowjetische Ehrenmal, Straße des 17.Juni, Berlin. Als es 1945 erbaut wurde, waren der Tiergarten und ganz Berlin in Trümmern. Monumental, mit Panzer, Stufen und Säulen ist dieses Denkmal dem Sieg Russlands über Nazi-Deutschland gewidmet. Zunächst garantierte ein Vertrag der ehemaligen Alliierten, dass das Denkmal nach dem Mauerbau bewahrt wird, dann wurde sein Erhalt auch nach dem Fall der Mauer vereinbart.

„Die Auslassung, das Schweigen steht dort buchstäblich in goldenen Lettern geschrieben. In den großen Goldzahlen an der zentralen Säule, die laut diesem Denkmal die Daten angeben, während derer die Sowjetarmee den Zweiten Weltkrieg führte und schließlich gewann. Diese goldenen Jahreszahlen lauten 1941–1945: der Große Vaterländische Krieg, der ruhmreiche Kampf gegen die Nazi-Invasoren und, schließlich, deren Niederlage.…
Diese beiden Jahreszahlen haben fast 80 Jahre lang die Lüge gestützt, dass die Sowjetunion erst nach Hitlers Überfall in den Zweiten Weltkrieg eingetreten sei. Wäre das Denkmal wahrheitsgetreu, stünde hier in Gold 1939 – nicht 1941 – bis 1945…

Nach dem Krieg, ja, sogar seit dem Einmarsch Hitlers war die Erwähnung des Molotow-Ribbentrop-Pakts in der UdSSR ein Verbrechen, auf das der Tod stand. Der Zweite Weltkrieg war der Große Vaterländische Krieg gegen den Nationalsozialismus, und er hatte 1941 mit dem Einmarsch Hitlers begonnen, Punkt – etwas anderes zu behaupten bedeutete Verrat. Die zwei Jahre von 1939 bis 1941, in denen Hitler und Stalin Verbündete waren und sich über die Aufteilung Europas einigten, mussten aus den Geschichtsbüchern und aus dem persönlichen Gedächtnis getilgt werden.“ 

Eine Macht des Schweigens existiert in allen gesellschaftlichen, familiären und persönlichen Beziehungen. Gibt es in einer Familie transgenerationale Traumata, Erfahrungen der Großeltern, die für die Enkel spürbar sind, obwohl darüber nicht gesprochen wird? Welche für Klient*innen bedeutsame Themen werden aus Angst oder Scham geleugnet? Denn es erfordert Mut, Worte zu finden für den Schatten, den der gewalttätige Vater warf, für die schmerzlichen Erfahrungen mit der tablettensüchtigen Mutter, für das Einordnen eigener sexueller Vorlieben. Für manche Menschen ist es undenkbar, sich eigene Potenziale zuzugestehen und sich zu ermächtigen. Andere haben keine Sprache für unerwünschte Gefühle wie Neid, Abscheu, aber auch Verletzlichkeit und Sehnsucht.

Foto von Pixabay

Worte der Aufklärung und der Freundlichkeit

Als Psychotherapeut*innen gehen wir mit den vielfältigen Seins-Zuständen unserer Klient*innen um. Körperliches Befinden, Worte, die sich zu Gedanken formen, Gefühle, Bindungen, Handlungsmuster, Identitäten - um nur ein paar denkbare Kategorien aufzuzählen. Die verschiedenen Therapieformen richten sich an unterschiedlichen Entwicklungstheorien aus, aber alle eint, dass eine Integration angestrebt wird. Die Sprache des Körpers verstehen, abgelehnten Selbstanteilen Anerkennung zukommen lassen, Konflikte klären, Familiengeheimnisse zur Sprache bringen.

In der Hypnotherapie werden Klient*innen eingeladen, mit ihrem Unbewussten in Kontakt zu kommen und Impulse, Erlebnisse, Einsichten wahrzunehmen, die aus ihren üblichen Alltagsroutinen herausragen. Wird Trance als Explorationsraum genutzt, in dem das Pacing im Vordergrund steht, können überraschende und auch unbequeme Selbsterkenntnisse gewonnen werden. Inspirierende neue Worte, die sich richtig anfühlen, initiieren eine plötzliche Klarheit, in der auch den Ambivalenzen und missliebigen Affekten mit einer freundlichen Haltung begegnet wird. Diese Methoden der Selbsterkenntnis könnten ein konstruktiver Weg sein, ideologischer Verführung und Tabuisierungen etwas entgegenzusetzen.

Auf einem hypnotherapeutischen Kongress besuchte ich vor vielen Jahren einen Workshop, den ein mongolischer Schamane hielt, der gleichzeitig deutscher Schriftsteller war. Der Workshop hatte den Titel „Heilen mit Worten - Worte wie Wind“. Galsan Tschinag hatte in der DDR studiert und sogar Romane auf Deutsch veröffentlicht. Auf der Bühne stand ein Mann in mongolischer Tracht und sagte: „In meiner Heimat sind alle Heiler auch Dichter.“ Denn Worte haben ein Gewicht, ein Volumen, eine Farbe. Die Verletzungen durch Worte können schmerzvoller sein als körperliche Gewalt. Was sind heilende Worte? Ganz einfach, das sind Worte, die wir uns selbst wünschen. Wahre aufrichtige Worte, leichte Worte, weiche Worte, Worte der Freundlichkeit.

Foto von Kaboompics.com

Literatur: 

- Galsan Tschinag (2025) Häuptling, Schamane, Dichter und Wanderer zwischen den Welten.
Bielefeld: Aurum

- Navid Kermani (2020) Morgen ist da. Reden. München: Beck.

- Stephan Lebert & Louis Lewitan (2025) Der Blinde Fleck. Die vererbten Traumata des Krieges und warum das Schweigen in den Familien jetzt aufbricht. München: Heyne Verlag

- Francesca Melandri (2023) Verschwiegenheit ist keine Tugend, FAZ 7.9.23