Nr. 58
Menschlichkeit vs. Manipulation: Wirklich ein Widerspruch?
Artikel von

Thomas Fritzsche
„Menschlichkeit statt Manipulation“ impliziert, dass eine Botschaft entweder menschlich oder manipulativ sein kann. Ob Formulierung, Intervention, Geschichte – wenn etwas manipulativ ist, ist es dann automatisch nicht menschlich?
Was versteht man unter manipulativ? Ich übersetze es mit: heimlich auf Verhalten, Denken oder Fühlen einer Person einwirken, ohne dass sie es merkt. Als Hypnotherapeut*innen verwenden wir ja ganz bewusst Implikationen. Auch setzen wir gern Geschichten ein, um eine Botschaft zu transportieren.
Implikation bedeutet, in einer Aussage wird zwischen den Zeilen versteckt eine Botschaft transportiert. Geschichten können im Allgemeinen sogar eine ganze Menge Botschaften enthalten, oftmals mehr als die Sender*innen selbst denken.
Nun frage ich mich zunächst, ob eine Implikation oder eine Geschichte dadurch, dass bestimmte Botschaften darin versteckt sind, automatisch und grundsätzlich Beispiele manipulativer Kommunikation darstellen?
Routinierte Konstruktivist*innen könnten entgegnen, es sei die Freiheit der Zuhörenden, welche Botschaft sie aus der Implikation oder aus der erzählten Geschichte ziehen – Bedeutung gibt man ja bekanntlich. Wahrgebung eben, nicht Wahrnehmung; wir kennen sicher alle dieses Wort–Spiel.
Es geht mir um einen anderen Aspekt: Es geht mir um Manipulation für Menschlichkeit.
Ernil Hansen hat mehrfach darauf hingewiesen, dass es als Kunstfehler gelten müsse, wenn ein Arzt oder eine Ärztin auf die Wirkung einer bestimmten Kommunikation verzichtet. Auch ein Placebo nicht zu verwenden, stelle einen Kunstfehler dar. Ich habe gelesen, wenn man entsprechendes „Theater“ bei seiner Verabreichung mache, wirke das Placebo noch besser: „Sie müssen es rasch schlucken und gut spülen, es ist so stark!“
Die Ärzt*in täuscht also die Patient*in, manipuliert – aber mit einem menschlichen Ziel.
In meinem Kurs „Hypnotische Kommunikation in der Verhaltenstherapie“ kritisieren manche Teilnehmer*innen die Milton-Sprache als verdeckt und deshalb manipulativ. Aber: Haben wir nicht den Auftrag, auf unsere Kundschaft einzuwirken, damit diese ihre wichtigen Ziele erreichen?
Und ist nicht das nahezu einzige Werkzeug, das uns dafür 40 Jahre lang zur Verfügung steht, unser Mund-Werk? Sollten wir nicht wirklich geschickt darin sein, mit diesem Werkzeug umzugehen? Sollten wir nicht wenigstens in bestimmten Fällen in der Lage sein, indirekt zu kommunizieren?
Wenn Jay Haley beispielsweise eine alles hinterfragende Klient*in 32 Meilen nördlich aus der Stadt fahren, dort parken und in einen Feldweg gehen lässt, genau 350 Meter weit, weil die Person dort etwas finden wird, was ihr weiterhilft, wendet er ein projektives Verfahren an. Es ist ein Trick.
Sollte er zuvor darüber aufklären, dass dort „nichts“ ist, dass er nur hofft, sie würde dem Ganzen, wenn sie dort lange genug steht und sucht, irgend einen wertvollen Sinn geben? Wird die Person dann noch dorthin fahren?
Manche Instrumente oder Werkzeuge wirken nur, wenn die Absicht nicht vorab erläutert wird. Soll ich auf deren Anwendung verzichten?
Gute Verhaltenstherapeut*innen machen mit Angstpatient*innen Reizkonfrontation. Sie gehen raus. Ich frage manchmal, wie lange es dauert, bis ein Klient*in mit Höhenangst auf einem Hochhaus oder Turm die Angst reduziert. Ca. 30 bis 40 Minuten, sagen viele.
Wenn ich mein Sprach-Werkzeug bewusst einsetze, dauert dieser Zeitraum nur ca. 3 bis 4 Minuten! Was ist der Unterschied?
Der klassische VT-Dialog auf dem Turm lautet, aufs Wesentliche verkürzt: „Okay, Frau Maier. Sie sagen also, Ihre Angst liegt auf der Skala zwischen acht und neun von zehn möglichen Punkten. Dann versuchen Sie jetzt bitte mal, die Angst zu reduzieren.“ Und Frau Maier versucht es.

Foto von Oleg Nagovski
Mit Milton-Sprache sage ich fast das Gleiche: „Okay, Herr Müller. Sie sagen also, Ihre Angst liegt im Moment noch auf der Skala zwischen acht und neun von zehn möglichen Punkten. Das ist prima. Versuchen Sie jetzt bitte mal, die Angst für einen kleinen Moment auf volle zehn Punkte zu steigern.“ (ebenfalls verkürzte Wiedergabe des Dialogs).
Was passiert – vermutlich – im ersten Beispiel? Frau Maier „versucht“ es, weiß aber nicht, wie („wenn ich wüsste, wie das geht, wäre ich doch nicht hier!“). Mit viel Geduld geht die Angst trotzdem langsam runter. Frau Maier habituiert, sie gewöhnt sich.
Was passiert im zweiten, bewusst „manipulierenden“ Beispiel? Herr Müller geht in den Widerstand. Auf „Versuchen Sie doch bitte, ganz kurz auf zehn Punkte zu gehen“ gibt es entsetzte Blicke, Kopfschütteln, Widerstand. Wenn ich darauf bestehe („zehn wäre schon besser als acht!“), kommt fast immer erneut ein „Nein“ und kurz darauf schon ein trotziges „jetzt ist es nicht mehr acht, jetzt ist es sieben!“ (und so weiter).
Ich manipuliere also zum einen, indem ich ganz bewusst eine „Symptomverschreibung“ einsetze, zum anderen manipuliere ich bewusst, indem ich ein „Sei spontan!“-Phänomen hervorrufe.
Ich manipuliere außerdem, indem ich die Implikation nutze, die im Wort „versuchen“ steckt: „Versuchen Sie, sich zu beruhigen“ versus „Versuchen Sie mal, noch ganz kurz auf zehn Punkte zu gehen!“ Beides kann klappen, kann aber auch schief gehen. Im Klient*innen-Interesse geht dann doch lieber das „noch kurz steigern“ schief als das Beruhigen.
Dazu kommt der dritte Aspekt: Mein o.g. Klient ist in einem therapeutischen Double Bind. Egal was Herr Müller jetzt tut, die Angst steigern (Compliance!) oder bockig die Angst reduzieren (Widerstand?), er kann es gerade nur richtig machen. Viele Menschen haben mir schon rückgemeldet, dass sich dieser Aspekt für sie sehr gut anfühlt.
Nebenbei ist es auch für mich hilfreich zu wissen, wenn ich neben jemandem stehe, der voller Panik auf einem hohen Turm oder auf eine Spinne reagiert: Egal was jetzt passiert, es ist in Ordnung. Ich „brauche“ die Angstreduktion nicht unbedingt – und strahle, vermutlich, das auch aus.
Wenn Verhaltenstherapeut*innen das lesen: Ja, ich gehe dann schon noch ins Psychoedukative, lasse ausprobieren, mit welchen Gedanken Herr Müller die Angst wieder steigern kann, und welche Gedanken dazu führen, ruhiger zu werden.
Zurück auf den Turm: Ich formuliere sehr bewusst, aber erkläre nicht, wieso ich das so sage. Ich bin nicht transparent. Ich manipuliere bewusst, um bestimmte Effekte zu nutzen. Aber Herr Müller „leidet“ nur drei Minuten und nicht eine halbe Stunde.
Manipulativ und menschlich? Meine Beispiele sollten zeigen, dass es für mich kein automatisches Entweder-Oder gibt, sondern ein fröhliches „es kommt drauf an“.
Jetzt würde ich gerne diskutieren, worauf es denn ankommt.
Mein Vorschlag: Wenn es dem Prozess nützt, den Sinn einer Intervention oder die Absicht dahinter nicht offen zu legen, mag das manipulativ sein – aber zugleich immer noch menschlich.

Foto von Ketut Subiyanto