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Vereinszeitung der Milton Erickson Gesellschaft

 Nr. 58

„Was stattdessen?!“ – Kernelement therapeutisch wirksamer Kommunikation 

Artikel von

Dr. Hansjörg Ebell

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Hypnotherapeutisch – aber auch methodenübergreifend – ist ein Perspektivenwechsel weg von Vermeidungszielen hin zu Annäherungszielen ein wesentliches Element therapeutisch wirksamer Kommunikation. Neurobiologische Grundlage ist die Unterscheidung eines sog. Behavioralen Inhibitionssystems (BIS) und eines Behavioralen Aktivierungssystems (BAS).¹

Vermeidungsziele (Behaviorales Inhibitionssystem)

Für Behandelnde jeglicher Profession und auch für die Behandelten selbst erscheint es erst einmal selbstverständlich, dass die therapeutische Zusammenarbeit dazu dienen soll, gravierende Probleme zu „bekämpfen“. Die leidvoll erlebten Symptome einer Störung oder Krankheit sollen verringert und im Idealfall ganz abgeschafft werden können. Beide Seiten verfolgen damit primär Vermeidungsziele. Um den Behandlungsverlauf bzw. den Erfolg therapeutischer Maßnahmen zu überprüfen, kann dies mittels einer visuellen Analogskala (VAS) „gemessen“ werden. Wenn das unerträgliche Maximum des Problems (z.B. Schmerz) links außen mit 10 angesetzt wird, bedeutet erst eine 0 am Ende der Skala ganz rechts (s. obere Hälfte der Abb.), dass nichts Unangenehmes mehr zu registrieren ist. Jede Veränderung hin zu geringeren Werten steht für einen Fortschritt, aber bis zum Nullpunkt befindet man sich noch im Assoziationsfeld von leidvoll Erlebtem bzw. von im Gedächtnis abgespeicherten persönlichen Erfahrungen, die das Behaviorale Inhibitionssystem (BIS) getriggert und verstärkt haben. Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit gehören untrennbar mit dazu. In der Behandlung akuter Probleme, insbesondere in Kombination mit einer wirksamen Medikation, ist diese Perspektive in der Regel angemessen und ausreichend.

Annäherungsziele (Behaviorales Aktivierungssystem)

In einer mittel- und langfristigen therapeutischen Begleitung ist es jedoch unabdingbar, eine ergänzende Perspektive zu eröffnen: Es gilt, Annäherungsziele zu ermitteln, d.h. Erfahrungen, die mit „weniger vom Problem“ nicht beschrieben werden können, sondern ein individuell bedeutungsvolles „was stattdessen“ beinhalten. Dafür kommt alles in Frage, was positiv erlebt wird und wo ein „mehr davon“ die Lebensqualität verbessert. Wenn man auch dies in subjektive Messwerte von 0 bis 10 auf einer VAS (s. untere Hälfte der Abb.) übersetzt, bedeutet jeder Schritt nach rechts ebenfalls eine Entwicklung in die richtige Richtung. Hier kommt jedoch hinzu, so dass jeder höhere Wert – und sei die Veränderung auch noch so klein – als Erfolg erlebt werden kann. Zudem befindet man sich ab dem kleinsten Wert bereits im Assoziationsfeld von im Gedächtnis gespeicherten positiven Erfahrungen des Behavioralen Aktivierungssystems (BAS). Dazu gehören auch frühere Erfolge durch eigene Bemühungen und Fähigkeiten (Selbstkompetenz, Selbsteffizienz).

„Ein Notfalltelefonat“ - Exemplarische Fallgeschichte

Frau R. berichtet, dass sie die ganze Nacht trotz starker Medikamente wegen unerträglicher Schmerzen nicht habe schlafen können. Sie wisse nicht mehr ein noch aus. Als Ursache vermutet sie Metastasen ihrer Krebserkrankung.  Es braucht Zeit, bis ich die Ausgangssituation verstanden habe und das Schmerzproblem durch Nachfragen genauer klären kann. Auf meine Bitte hin, zu schildern, wie sich das genau anfühle „im Rücken, auf der linken Seite, unterhalb des Schulterblatts nahe an der Wirbelsäule“, sagt sie: „wie ein ganz frischer blauer Fleck nach einem Schlag oder Sturz, auf den zusätzlich noch stark gedrückt wird.“ Auf die Frage, wie sich diese Stelle besser anfühlen könnte, kommt als Erstes: „Ich möchte die Stelle am liebsten rausreißen!“ (Aktivierung des BIS: Vermeidungsziel bzw. „weniger von …“). Ich erkläre, dass ihre Reaktion verständlich sei, aber nicht die Richtung, die ich gemeint habe und spezifiziere meine Frage: „Welche Art von Druck wäre denn eindeutig besser, wenn er an der Stelle bzw. an Stelle des blauen Flecks spürbar wäre?“ (Aktivierung des BAS: Annäherungsziele bzw. „mehr von einem ‚was stattdessen‘“).

In mehreren Schritten entdeckt Frau R. bzw. entwickeln wir gemeinsam folgende Vorstellungen bzw. Annäherungsziele im Sinne von „was stattdessen“: „Druck von der Hand einer anderen Person“ (nicht benannt), „diese Hand ist gut durchblutet und angenehm warm“, „diese Hand liegt ganz leicht, aber spürbar auf der Stelle“ sowie „mit einer Watteschicht zwischen der Hand und dem blauem Fleck fühlt es sich noch besser an“.

Dieser Austausch dauert etwa eine Viertelstunde. Auf meine Frage, wo sie sich jetzt gerade befinde auf einer Skala zwischen 0 und 10 bei dem guten Gefühl „einer gut durchbluteten Hand einer anderen Person, die ganz leicht aber spürbar auf der Stelle liegt, mit einer Watteschicht dazwischen“ (zusammenfassend für alle gemeinsam eben gefundenen „Was stattdessen“-Wahrnehmungen), gibt sie 2 an. (Die Schmerz-VAS habe ich zu Beginn des Gesprächs nicht erfragt; ich vermute, dass die Angabe nahe 10 gewesen wäre.) Mein Kommentar: „Super! Mehr davon! Das ist genau die Richtung, die ich gemeint habe!“ Dann frage ich, ob wir es erst mal dabei belassen können (es ist ein Sonntag gegen Mittag) und am Abend nochmal telefonieren sollen. Sie ist einverstanden.

Telefonat um 19:30 Uhr: Als Erstes habe sie bei dem schönen Wetter einen Spaziergang gemacht von etwa zwei Stunden. Danach sei sie eingeschlafen, sehr erholsam. Es gelinge ihr, das Wattegefühl unter der Hand zu spüren, und das sei eindeutig besser, als sich auf den Schmerz zu konzentrieren, der auch immer noch da sei. Ich plädiere dafür, trotz bzw. wegen der deutlichen Besserung, das verordnete starke Schmerzmittel (Opiat) zu nehmen. Ich spreche noch an, dass die Ergebnisse der für den morgigen Tag angesetzten Diagnostik sicherlich noch eine gezieltere, wirksame Behandlung ermöglichen werden und wünsche „eine gute Nacht“ und „alles Gute“.

Foto von Pixabay

„Was Stattdessen“-Perspektive: weg von … hin zu …

Genuines Interesse der Behandelnden für die geklagten Probleme im Detail (Pacing) ist die optimale Grundlage, um individuelle Suchprozesse nach geeigneten Annäherungszielen zu gestalten (Leading). Dies ist sowohl im Gespräch möglich als auch im Kontext eines Hypnoserituals. Wenn sie gemeinsam gefunden wurden, sind diese Ziele optimal geeignet als Fremd- und als Auto-Suggestionen, da sie selbstverständlich und maßgeschneidert sind (s. Fallgeschichte). Für den Erfolg und die weitere Gestaltung der therapeutischen Zusammenarbeit bei komplexen Bedingungen mit einer langen Vorgeschichte sind natürlich möglichst viele positive Erfahrungen von überzeugender Intensität wichtig.² Um die erforderlichen Um-Lernprozesse zu fördern (Neuroplastizität), ist eine Übersetzung in Werte auf der visuellen Analogskala (BAS) hilfreich und sehr gut geeignet.  

Zur Bedeutung von Akzeptanz und Achtsamkeit

Der Perspektivenwechsel von BIS zu BAS, von Vermeidungszielen zu Annäherungszielen, eröffnet Möglichkeitsräume für das Regulations- und Heilungspotential der menschlichen Spezies. Wenn sich Leidenserfahrungen (z.B. Schmerz, Ängste) gehäuft haben, wird die Vermeidung der Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit zu einem wichtigen Ziel. Akzeptanz und Achtsamkeit helfen, schneller und wirksamer aus der daraus resultierenden, sich selbst verstärkenden Negativ-Spirale des BIS auszusteigen. Wenn Unangenehmes so gelassen wie möglich zur Kenntnis genommen wird, führt dies eher zu möglichen Veränderungen, als wenn es durch Verfluchen und Bekämpfen emotional-affektiv verstärkt wird. Es erleichtert, sich auf „Was stattdessen“-Erfahrungen zu fokussieren. Wenn es sogar gelingt, die Wahrnehmung in gewünschte Richtungen zu lenken, können Erfolgserlebnisse und Zuversicht generiert werden (BAS-Skala). Dies gilt auch trotz fortbestehender Probleme und Belastungen auf der BIS-Skala (z.B. in der Psychoonkologie und Behandlung chronischer Schmerzen). Dieser Lernprozess führt in Richtung Rehabilitation und Heilung. Die beschriebene, therapeutisch wirksame Kommunikation ermöglicht, dazu einen wesentlichen Beitrag zu leisten.³

[1]

Grawe K. (2004). Neuropsychotherapie (Hogrefe).
Brunner, J. (2017) Psychotherapie und Neurobiologie – Neurowissenschaftliche Erkenntnisse für die psychotherapeutische Praxis (Kohlhammer).

[2]

Jensen, M. et al. (2016): The Behavioral Activation and Inhibition Systems: Implications for Understanding and Treating Chronic Pain. (pp. 529.e1-529.e18.)
Harrer, M. & Ebell, H. (2021) Hypnose und Achtsamkeit in der Psychoonkologie (Carl Auer)

[3]

Ebell, H. (2022): "Wenn es so weh tut!" - Therapeutische Kommunikation und Resonanz in der Schmerztherapie (S. 109-125),
Ebell, H. (2017): Hypno-Therapeutische Kommunikation: Kernelement einer auf Resonanz basierten Medizin ("Resonance Based Medicine") (S. 173-202) in: ZHH - Zeitschrift für Hypnose und Hypnotherapie.