MEGaPhon

Vereinszeitung der Milton Erickson Gesellschaft

 Nr. 58

Standardsituationen in der medizinischen Hypnose 

Artikel von

Portrait Dorothea Thomaßen

Dr. Dorothea Thomaßen

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Zu diesem Thema passen auch folgende Video-Interviews hier im MEGaPhon 58:

Trance ist als ein Zustand fokussierter Achtsamkeit definiert, der offen ist für Suggestionen. In der therapeutischen Hypnose geht es darum, wie sich die Aufmerksamkeit von Menschen so lenken lässt, dass sie in einen guten Zustand kommen. Dabei ist Trance nicht ausschließlich an eine formale Induktion gebunden, sondern ein Alltagsphänomen. In jedem Mathematikunterricht zeigt sich, wie unterschiedlich es den somatischen und mentalen Zustand beeinflusst, wenn sich die Achtsamkeit spontan auf dieses oder jenes Objekt richtet: Während der Mathematikcrack hoch konzentriert in einen wohltuenden Lösungsflow kommt, merkt er möglicherweise nicht, wie ihn ein Klassenkamerad mit Papierkügelchen beschießt. In seiner Umgebung kommen viele, die das aufmerksam beobachten, in einen Zustand gelöster Heiterkeit und haben die Qualen des Unterrichts vergessen. Andere sind schon vorher in eigene Tagträume abgeglitten, üben innerlich Skateboard-Sprünge oder tauschen imaginäre Küsse mit ihrer heimlichen Liebe aus, die natürlich nichts davon wissen darf, oder werfen sich zwischen ihre streitenden Eltern, was sie in Wirklichkeit nie tun würden. Träumend erhöht dabei das erste Kind seinen Muskeltonus, das andere schmilzt dahin, das dritte fühlt sich wütend und niedergedrückt.

In meiner Vorstellung von Hypnose und Trance arbeiten wir mit der sehr einfachen Tatsache, dass das Bewusstsein begrenzt ist, aber in diesen Grenzen mit Inhalten bespielt werden möchte oder sonst sich selbst bespielt. Der jeweilige Bewusstseinsinhalt hat aber großen Einfluss auf das körperliche Erleben. Langeweile oder Überforderung sind Situationen, in denen das Informationsangebot nicht zum Fassungsvermögen des Bewusstseins passt, und die als unangenehm empfunden werden. Unter- oder überfordert füllt sich das Bewusstsein mit inneren Informationen. In der Medizin erleben Patienten häufig, dass sie entweder in Räumen wie Operationssälen, Intensivstationen oder Röntgenabteilungen sind, deren Aufbau sie nicht verstehen und die sie überfordern, oder sie verbringen viel Zeit wartend und gelangweilt. Selbst ein invasiver Eingriff ist eine Wartezeit, denn Patienten sind zur Passivität gezwungen, während andere an ihrem Körper operieren. Akute Notfallsituationen sind für Betroffene eine Überforderung per se. Und schließlich kann eine chronische Erkrankung die Aufmerksamkeit so binden, dass Alternativen übersehen werden.

In der Folge möchte ich Grundprinzipien medizinischer Hypnose beschreiben, die sich in ihrem hypnotherapeutischen Vorgehen stark unterscheiden:

  1. Instrumentelle Trancen zur Erleichterung eines anderen medizinischen Verfahrens
  2. Der sprachliche Notfallkoffer für akute Notsituationen
  3. Komplementäre hypnotherapeutische Arbeit bei somatischen Erkrankungen

In diesen medizinischen Standardsituationen sind sehr unterschiedliche Formen der Aufmerksamkeitslenkung hilfreich.

Foto von lil artsy

Instrumentelle Hypnose

Eine instrumentelle Hypnose erzeugt eine vorübergehende Zustandsveränderung, die eine andere medizinische Maßnahme erleichtert. Diagnostische Maßnahmen wie eine Endoskopie oder eine MRT-Untersuchung sowie invasive Verfahren wie eine Wundversorgung bis hin zu Operationen lösen bei vielen Menschen Angst aus oder sind ihnen unangenehm. Viele invasiv arbeitende Ärzte entdecken bei einer Hypnoseausbildung, dass sie bereits ein Grundwerkzeug besitzen, um ihren Patienten mit Ablenkungen zu helfen, denn die Lenkung der Aufmerksamkeit gehört zum klugen ärztlichen Handeln. Die medizinische Hypnose hat dieses Wissen ausgebaut, systematisiert und verfeinert. Das Grundprinzip ist: Wenn sich das Bewusstsein auf angenehme innere Erfahrungen richtet, kann es Unangenehmes ausblenden. Besonders Zahnärzte haben zahlreiche Methoden entwickelt, um Patienten zu helfen, sich mental aus der gegenwärtigen Situation zu lösen, indem sie dissoziieren. Hier gilt vor allem: Je stärker während einer Trance das Sehen angesprochen wird, desto mehr kann das aktuelle Fühlen ignoriert werden. Starre-Reflexe am Mund und vielleicht am Arm, sogenannte Katalepsien, verstärken die Dissoziation. Die Mundkatalepsie erleichtert die zahnärztliche Arbeit für beide Seiten, weil der Mund nicht willkürlich offengehalten werden muss. Kinder haben die Augen dabei oft geöffnet. Da eine Trance sich selbstständig aufrechterhalten kann, entsteht eine Art Arbeitsteilung. Der Arzt kümmert sich um den Körper, der Patient bleibt in Trance und erlebt währenddessen eine gute Erfahrung, in der er lange verbleiben kann. Diese lebendige innere Erfahrung ist eine Aktivität des Patienten. Die Zeit während der Intervention ist keine Wartezeit mehr, sondern ein äußerlich ruhiger, innerlich hochlebendiger Zustand, in dem sogar das Zeitgefühl oft aufgehoben ist.

Die instrumentelle Trance als Bewältigungsstrategie hat allerdings eine wichtige Voraussetzung. Sie funktioniert nur, wenn der Patient mit der angebotenen Maßnahme einverstanden ist. Erst vor dem Hintergrund dieses Einverständnisses und der damit verbunden Perspektive, dass die vorgeschlagene Maßnahme Sinn macht, sind Patienten bereit, in ihre eigene innere Welt zu dissoziieren und ihren Körper vertrauensvoll zu überlassen.

Foto von Pixabay

Der sprachliche Notfallkoffer

Menschen in akut bedrohlichen Notsituationen fühlen sich dem Geschehen ausgeliefert und sie suchen intensiv nach einer Lösung. Sie geraten in einen aufgelösten Ich-Zustand, denn aus sich selbst heraus wissen sie sich nicht mehr zu helfen. Die hochgradige Suggestibilität, die entsteht, wenn man auf andere existenziell angewiesen ist, entspricht einem spontanen Trancezustand. Man muss und will jemandem glauben, wenn man keinen Weg mehr hat, sich selbst zu stabilisieren.

Ein Arzt, der darum weiß, hat nicht nur Medikamente in seinem Notfallkoffer, sondern auch heilsame Suggestionen. Eine Intervention muss dreierlei leisten: Schutz, Ich-Rekonstruktion und eine gesunde Ausrichtung. In ihrem Suchprozess neigen Patienten dazu, alles, was geschieht, auf sich zu beziehen. Dies geht mit einer erhöhten Vulnerabilität einher. Ein Patient kann sich gegen eine Bemerkung wie „Der ist doch selber schuld!“ nicht schützen, selbst wenn er damit gar nicht gemeint war. Stattdessen rekonstruiert er mit dem zufällig Gehörten sein Selbstbild. Menschen in Notsituationen sollten bestmöglich gegen Lärm und Gesprächen von Dritten abgeschirmt werden.

Helfende sollten ihre Worte bewusst so wählen, dass sie sich ausschließlich und konstruktiv auf die gegenwärtige Situation und auf zu erwartende, positive Resultate beziehen. Dabei muss sich jeder Arzt bewusst sein, dass seine Äußerungen hier oft wortwörtlich verstanden werden. Die Bitte an den Kollegen „Bring mir das aus dem Giftschrank“, wird von Betroffenen tatsächlich mit Gift und Gefahr assoziiert. Wichtig ist auch, dass Menschen im aufgelösten Ich-Zustand Negationen nur unzureichend erkennen können, so dass beispielsweise die Aussage „Sie brauchen keine Angst zu haben, es tut nicht weh“ die Aufmerksamkeit trotz aller Beteuerungen auf Angst und Schmerz lenkt. Hilfreich sind hingegen Formulierungen, die gewünschte Effekte eindeutig benennen: „Sie können sich langsam beruhigen. Gleich wird es Ihnen besser gehen.“ Entgegen der herkömmlichen medizinischen Terminologie Gesundheit mit Negationen zu beschreiben, wie etwa „Sie haben nichts, alles ohne pathologischen Befund“, müssen Ärzte lernen, eine gesunde Physiologie sprachlich auch so zu benennen und in einfachen, positiv formulierten Sätzen allgemeinverständlich sprachlich auszudrücken.

In der Notfall-Situation ist nicht die Zeit, über diese Botschaften nachzudenken, sondern Ersthelfer sollten genau wie ihre Medikamente auch ihren sprachlichen Notfallkoffer für den Ernstfall parat haben. Er ist leicht zu bestücken, wenn man sich drei Fragen stellt: Was tue ich? Wofür tue ich es? Wie drücke ich es eindeutig in einer gesunden Wortwahl aus? Wer sich einen sprachlichen Notfallkoffer aneignet und bei seiner Wortwahl konsequent darauf achtet, zum einen das Gesunde positiv und eindeutig zu benennen und zum anderen den Sinn und die Perspektive für Patienten vorstellbar zu machen, stabilisiert sie nicht nur psychisch, sondern über eine vegetative Umschaltung auch somatisch. Eine salutogene Sprache hat hier einen hohen hypnotischen Effekt und wirkt konsolidierend.

Foto von Mikhail Nilov

Komplementäre Hypnotherapie bei somatischen Erkrankungen

Anders als bei Menschen in akuten Notsituationen, haben Menschen mit chronischen Erkrankungen in der Regel eine komplexe, mitunter rigide Ich-Struktur. Ihre Hoffnung auf Genesung wurde wiederholt enttäuscht, neue Verfahren ordnen sich vor dem Hintergrund ernüchternder bis negativer Erfahrungen ein. Neben körperlichen Symptomen finden sich nicht selten ein katastrophisierendes Denken und Depressionen; teilweise werden die Beschwerden funktionalisiert, etwa um Zuwendung zu bekommen oder um sich abzugrenzen. Die Skepsis chronisch kranker Menschen ist verständlich und nachvollziehbar, ihre Suggestibilität ist herabgesetzt. Mit einem hypnotischen Fingerschnippen ist hier keine nennenswerte Veränderung zu erzielen. Stattdessen muss der Therapeut oder Arzt an die Ziele und Erfahrungen des Patienten anknüpfen und Passung herstellen.

Ein chronisch kranker Mensch erlebt seine Symptome als etwas, das in ihm selbst geschieht und sich gleichzeitig seiner willkürlichen Kontrolle entzieht. Anfangs bewerten Betroffene nur ihren Zustand negativ, je länger sich aber die Symptome dem Wollen entziehen, desto stärker leidet oft auch das Selbstbild. Hier ist therapeutischer Rapport essentiell. Es kommt häufig vor, dass Patienten, selbst wenn sie ein negatives Selbstbild haben, ihren Zustand vor anderen rechtfertigen und erklären. Wenn Therapeuten diese Rechtfertigungen akzeptieren, können Patienten sie leichter aufgeben, als wenn sie diese verteidigen müssen.

Die moderne medizinische Hypnose orientiert sich an der Individualität und den Ressourcen der Betroffenen. Eine reine Diagnose reicht nicht für ein therapeutisches Konzept, sondern der Therapeut braucht dazu Informationen, die den besonderen Charakter seines Gegenübers kenntlich machen: Was ist der Auftrag, also der angestrebte Zielzustand des Patienten? Welche Ressourcen hat er schon jetzt, um seine Gesundheit zu verbessern? Welche Aspekte haben seine Symptome, die vom Patienten bejaht werden und folglich als Ressourcen genutzt werden können?

Die Auftragsklärung bei chronischen Prozessen zielt auf eine sprachliche Beschreibung des gesunden Zielzustandes durch den Patienten selbst. Das ist anfangs oft schwierig, weil die gesunde körperliche Regulation unterbewusst abläuft und der gegenwärtige Problemzustand die Vorstellungskraft beeinflusst. Doch gerade bei langwierigen Beschwerden ist es wichtig, dass Betroffene ihre eigene salutogene Sprache finden. Auf ihrer Suche nach Worten für Gesundheit durchforsten sie ihre Erfahrungen nach wünschenswerten Zuständen. War ihr Fokus durch den Problemzustand auch im Problemgedächtnis verhaftet, richtet das geduldige Fragen „Wie soll es denn stattdessen sein?“ das Gedächtnis auf Gesundes aus. Wer Anspannung, Krampf und Angst erlebt und sich in dieser Lage an Worte wie locker, weich und geschmeidig, vertrauend und sicher erinnern kann, erfährt eine somato-psychische Veränderung. Die Vergegenwärtigung eines Wunsches kann vom Körper tatsächlich umgesetzt werden und sich physiologisch realisieren. In diesem Fall führt die Auftragsklärung zu direkt beobachtbaren Resultaten. Das englische Wort für erinnern, remember, drückt das sehr gut aus: etwas wieder eingliedern. Die späteren hypnotherapeutischen Interventionen müssen diesen Prozess dann nicht mehr einleiten, sondern können darauf aufbauen. Gleichzeitig erhält der Therapeut ein eigensprachliches Wortfeld, dass vom Patienten selbst für sich maßgeschneidert wurde, den salutogenen Idiolekt dieses konkreten Menschen. Es ist daher essentiell bei der Wortfindung nicht zu helfen, sondern geduldig Zeit und Raum zu lassen, damit der Betroffene seine eigene Sprache findet. Wer beharrlich warten kann, wird mit Worten beschenkt, die auf den Patienten eine heilsame Wirkung haben und in diesen Idiolekt kann der Therapeut jede weitere Intervention sprachlich einkleiden.

Foto von Engin Akyurt

Im nächsten Schritt werden die Ressourcen im Umgang mit den Symptomen erforscht. Der Blick gilt nun den Kompetenzen des Patienten, die oft in einer Krankheitserfahrung zu wenig gewürdigt werden. Gerade diese Menschen müssen viel Situationen neu bewältigen und lernen ihre körperlichen und seelischen Fähigkeiten neu kennen. So wie Leid leicht dazu führt, sich abzuwerten, kann der Blick auf die eigenen Fähigkeiten und Stärken das Selbstbild positiv verändern. Dabei staune ich oft, welche Findigkeit Betroffene in ihrem teilweise schweren Schicksal entwickeln.

Schließlich richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Ressourcen des Symptoms. Man kann sogar mit Symptomverschreibungen arbeiten und darum bitten, normalerweise spontan auftretende Krankheitszeichen willkürlich herbeizuführen, um herauszufinden, was es auch in diesem Zustand gibt, das zu bewahren wäre. Symptome verweisen oft auf Bedürfnisse, während Ziele häufig als Anforderungen erlebt werden. Es ist eine wichtige Frage, wie diese Ziele künftig auf gesunde Art angestrebt werden können, denn natürlich erreichen wir Ziele am einfachsten, wenn die Bedürfnisse berücksichtigt werden.

Bei all dem geht es nur vordergründig um Kognition. Fragen sind Vorschläge, den Blickwinkel zu verändern, mit anderen Worten, es handelt sich um Suggestionen. Bei Menschen mit komplexen Ich-Strukturen bringen sie Bewegung in etablierte Muster und eröffnen Flexibilität. Durch das, worauf sich die Aufmerksamkeit richtet, verändern die Fragen quasi beiläufig den Zustand dessen, der sich erinnert. Man spricht hier von zustandsabhängigem Lernen und Erinnern. Diese Schritte haben bei vielen Patienten eine deutliche Wirkung, denn sie zeigen auf, wann sie selbstwirksam und somit weniger ausgeliefert sind. Ein Therapeut, der sich wertschätzend äußert, verstärkt diesen Effekt.

Erst nach dieser Vorbereitung beginnt eine formal induzierte Trancearbeit. Der Betroffene selbst hat einen Bezugsrahmen geschaffen, aus dem der Hypnotherapeut individuell passende Suggestionen entwickeln kann. Sie sind besonders wirksam, wenn der salutogene Idiolekt des Patienten benutzt wird. Die Trance kann aufgenommen werden und danach beliebig oft gehört werden. Wenn Patienten es möchten, können sie Selbsthypnose lernen, um selbständig weiterzuarbeiten. Auch Ärzte ohne hypnotherapeutische Kenntnisse können das salutogene Wortfeld des Patienten nutzen, indem sie die erwartete Wirkung ihrer Maßnahmen mit den Zielworten der Patienten beschreiben. 

Zusammenfassung

Was also kann medizinische Hypnose für die Schulmedizin leisten? Bei Eingriffen und Untersuchungen kann sie die Aufmerksamkeit so binden, dass das ärztliche Vorgehen in den Hintergrund tritt und erträglicher wird. Bei akuten Notfällen wird die natürliche Suggestibilität heilsam genutzt. Bei chronischen Verläufen, also dort, wo bisherige medizinische Maßnahmen an ihre Grenzen gestoßen sind, wird ein Ressourcenansatz eingeführt, der sich an der Individualität des Betroffenen orientiert. Wenn die moderne Medizin sich an überindividuellen Norm- und Messwerten orientiert, arbeitet Hypnose in und mit der subjektiven Wirklichkeit des Patienten. Gerade die naturwissenschaftliche Ausrichtung der Medizin erleichtert dies, denn Trancearbeit fängt den Patienten in seinem direkten, eigenen Erleben nicht nur auf, sondern gibt diesem Erleben eine sinnvolle Funktion. Moderne medizinische Hypnose ist im besten Sinne des Wortes komplementär.